Bensheim & Umgebung

Regionalplan Südhessen: Bensheim als Entlastungskommune? Warum die Stadt an ihre Grenzen stößt

Artikelinfo
Titelbild: Bensheim © DALL-E 
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Lesedauer | 12 Minuten


Kaum ein Thema klingt auf den ersten Blick so abstrakt – und betrifft uns am Ende doch so direkt – wie der Regionalplan Südhessen. In diesen Wochen wird darüber entschieden, wie sich unsere Region in den nächsten Jahrzehnten entwickeln soll: Wo gebaut werden darf, wie viel Fläche versiegelt wird, und welche Städte und Gemeinden als sogenannte „Entlastungskommunen“ vorgesehen sind.

Auch Bensheim ist in diesem Entwurf vermerkt – mit 22 Hektar Wohnbau- und 15 Hektar Gewerbeflächen (Quelle: Regionalplan Südhessen/RegFNP, Textteil 1. Offenlage 2025, Tabelle 4). Für viele klingt das nach Chancen: mehr Wohnungen, mehr Arbeitsplätze, mehr Dynamik. Doch wer genauer hinschaut, erkennt schnell die Schattenseite dieses Wachstumsversprechens. Denn Bensheim stößt schon heute in vielen Bereichen an seine Grenzen – und genau hier beginnt die eigentliche Debatte: Braucht unsere Stadt wirklich noch mehr Flächen, oder braucht sie vor allem eines – eine Pause, um aufzuholen?

Warum der Regionalplan kein Randthema ist

Auf den ersten Blick wirkt der Regionalplan Südhessen wie ein technisches Papier für Planungsbüros. Doch seine Wirkung reicht direkt in unseren Alltag hinein. Er bestimmt, wo in den kommenden Jahren Wohn- und Gewerbeflächen entstehen dürfen – und damit auch, wie Bensheim sich entwickeln wird. In der Stadtverordnetenversammlung wurde darüber zuletzt intensiv diskutiert, und der Bergsträßer Anzeiger hat die unterschiedlichen Positionen dargestellt. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich: Es geht nicht um abstrakte Linien auf einer Karte, sondern um Fragen, die uns alle betreffen – vom Verkehr über Schulen und Kitas bis hin zur Lebensqualität in unserer Stadt.

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Regionalplan Südhessen – Offizielle Dokumente

Hier finden sich die zentralen Unterlagen des Regierungspräsidiums Darmstadt zum Entwurf des Regionalplans Südhessen: Der Textteil erklärt die Planungsgrundlagen, die Teilkarte zeigt die geplanten Flächen, und auf der Downloadseite gibt es weitere Pläne und Materialien.

Stand: 1. Offenlage Regionalplan/RegFNP 2025

01 – Gemeinsamer Textteil

Enthält die vollständigen Erläuterungen zum Regionalplan: Planungsgrundsätze, Flächenbedarfe und die Einstufung der Kommunen – auch Bensheim.

05 – Teilkarte 3

Zeigt die räumliche Verteilung der vorgesehenen Flächen: Wo künftig Wohn- und Gewerbegebiete entstehen, wo Freiraum bleibt.

Zentrale Downloadseite

Übersicht aller bisher veröffentlichten Unterlagen, Pläne und Karten zum Regionalplan Südhessen auf der Plattform des Regierungspräsidiums.

Was im Regionalplan wirklich steht

Schwarz auf weiß findet sich Bensheim im Entwurf des Regionalplans: Die Stadt ist als Entlastungskommune aufgeführt. Dahinter verbirgt sich ein klares Signal. Bensheim soll zusätzliche Entwicklung übernehmen, um die angespannten Kernstädte im Rhein-Main-Gebiet zu entlasten – vor allem Frankfurt, das seinen eigenen Wohnraumbedarf längst nicht mehr decken kann. Konkret bedeutet das: Für Bensheim sind 22 Hektar Wohnbauflächen und 15 Hektar Gewerbeflächen als Obergrenzen vorgesehen. Dieses Kontingent darf nicht überschritten werden, muss aber auch nicht ausgeschöpft werden.

Hier liegt der entscheidende Unterschied: Der Regionalplan gibt einen Rahmen vor, er weist Vorranggebiete und Flächenkontingente aus. Aber er definiert keine parzellenscharfen Baugebiete und schreibt auch keinen Sofort-Bauzwang fest. Ob, wann und wo Bensheim tatsächlich neue Flächen ausweist, entscheidet die Stadt weiterhin selbst über Flächennutzungs- und Bebauungspläne.

Regionalplan Südhessen – Was er vorgibt, was nicht

Was der Regionalplan vorgibt

Was der Regionalplan nicht vorgibt

Bensheim ist offiziell Entlastungskommune (E) mit 22 ha Wohnen und 15 ha Gewerbe (Kontingente).

Kein Bauzwang. Kontingente sind ein Mengenrahmen, keine Pflicht zur Ausschöpfung.

Flächenkulissen (Vorranggebiete Siedlung/Industrie & Gewerbe) im Entwurf.

Keine Parzellierung, keine Straßenzüge, keine Baufenster – das entsteht erst in FNP/B-Plan.

Steuerung über Achsen & Zentralität (Bensheim liegt auf einer Siedlungs-/Entwicklungsachse).

Zeitpunkt/Tempo der Entwicklung bestimmt die Stadt. Der Entwurf ist Rahmen, kein Automatismus.

Adressierung des regionalen Wohnraumbedarfs (Entlastungsfunktion Richtung Kernraum).

Kein Freifahrtschein: Kommunale Abwägung (Erschließung, Verkehr, soziale Infrastruktur, Klima) bleibt zwingend.

Politische Debatte in Bensheim

In der Stadtverordnetenversammlung wurde die Rolle Bensheims als Entlastungskommune intensiv diskutiert. Deutlich wurde dabei, dass es weniger um die Frage ging, ob die Einstufung im Regionalplan existiert – das tut sie zweifellos – sondern darum, wie diese Rolle zu bewerten ist und welche Konsequenzen sie haben könnte. Die Fraktionen von BfB, VUB und FWG warnten vor den Folgen. Sie fürchten, dass Bensheim mit zusätzlichen Flächen zur reinen „Schlafstadt“ für Frankfurt werden könnte. Hinter dieser Sorge steckt die Befürchtung, dass das Wachstum nicht mehr von den Bedürfnissen der Stadt selbst ausgeht, sondern von überregionalem Druck getrieben wird. Für die Opposition ist klar: Wer Entlastungskommune ist, steht langfristig unter Zugzwang.

SPD, CDU und FDP lehnten den Antrag gegen die Einstufung ab. Ihre Argumentation war, dass der Regionalplan zwar Kontingente ausweist, aber keine unmittelbaren Baugebiete vorgibt. Damit, so die Mehrheit, sei es verfrüht, ein klares „Nein“ zu beschließen, bevor die Bürgerinnen und Bürger umfassend informiert sind. Hier zeigt sich eine eher abwartende Haltung: Man möchte zunächst Klarheit über Details, bevor man Position bezieht. Die Bürgermeisterin unterstrich diesen Punkt. Sie betonte, dass der Regionalplan zwar Flächenrahmen setzt, aber nicht über konkrete Baugebiete entscheidet. Damit stellte sie richtig, dass kein Automatismus besteht und die kommunale Bauleitplanung das entscheidende Steuerungsinstrument bleibt. Gleichzeitig bedeutet das jedoch nicht, dass die Einstufung folgenlos ist. Der Entwurf schafft Erwartungen und sichert langfristig Flächen, die der Stadt mittel- und langfristig Spielräume für Entwicklung abverlangen.

In der Debatte fiel schließlich auch die Bemerkung, Bensheim sei ohnehin schon eine Schlafstadt von Frankfurt. Eine Aussage, die den Kern der Auseinandersetzung eigentlich verfehlt. Denn selbst wenn man ein gewisses Pendleraufkommen nicht bestreiten kann, taugt dieses Argument kaum als Begründung, um weiteres Wachstum als zwangsläufig hinzunehmen. Wer so argumentiert, öffnet eher Türen für zusätzlichen Flächenverbrauch, statt die bestehenden Belastungsgrenzen der Stadt ernst zu nehmen. Am Ende bleibt: Die Fronten sind klar, die Abwägung kompliziert. Zwischen der warnenden Haltung der Opposition und der abwartenden Linie der Mehrheit bleibt die nüchterne Tatsache bestehen, dass Bensheim im Regionalplan als Entlastungskommune aufgeführt ist – und dass die Stadt nun verantwortungsvoll mit dieser Rolle umgehen muss.

„Entlastungskommune“ – was heißt das?

Im Regionalplan sind einige Städte als Entlastungskommunen markiert. Sie sollen perspektivisch zusätzlichen Wohnraum und Gewerbe ermöglichen, damit die stark wachsenden Zentren (z. B. Frankfurt) entlastet werden.

Was es bedeutet

Ein Rahmen für mögliche Entwicklung: Kontingente (z. B. ha für Wohnen/Gewerbe) und Flächenkulissen. Kein parzellenscharfer Bauplan.

Was es nicht bedeutet

Kein Bauzwang. Die Stadt entscheidet über Zeitpunkt, Ort und Umfang in ihren eigenen Plänen (FNP/Bebauungsplan).

Warum das wichtig ist

Entlastungsstatus erhöht den Entwicklungsdruck – wirkt sich auf Verkehr, Schulen, Finanzen, Natur & Klima aus. Deshalb: sorgfältig abwägen.

Grenzen des Wachstums: Wo Bensheim schon heute anstößt

Wachstum klingt in der Theorie immer nach Chancen: mehr Einwohnerinnen und Einwohner, mehr Steuereinnahmen, mehr Dynamik. In der Praxis stößt Bensheim aber schon heute an Grenzen, die man nicht einfach wegdiskutieren kann. Wer also über zusätzliche 22 Hektar Wohnen und 15 Hektar Gewerbe spricht, muss auch die Folgen im Blick haben – und die treffen uns an mehreren Stellen gleichzeitig.

Verkehr: Schon jetzt ein System am Limit

Die Zahlen aus dem Mobilitätskonzept „Mobiles Bensheim 2040“ sprechen eine klare Sprache: Der motorisierte Individualverkehr dominiert nach wie vor, während Radverkehr und ÖPNV weit hinter den angestrebten Anteilen zurückbleiben. Das bedeutet im Klartext: Mehr Einwohner führen fast zwangsläufig zu mehr Autos, mehr Staus und mehr Belastung der ohnehin schon überfüllten Straßen. Gleichzeitig sind die Klimaziele der Stadt nur zu erreichen, wenn der Verkehr massiv umgebaut wird. Wer Bensheim wachsen lässt, ohne die Verkehrswende konsequent voranzutreiben, programmiert den nächsten Dauerstau und gefährdet die Klimastrategie gleich mit.

Schulen und Kitas: Kein Platz mehr für weiteres Wachstum

Schon heute stehen Schulen und Kindergärten in Bensheim unter Druck. Klassenstärken steigen, Räume werden knapp, und an vielen Stellen ist die Belastungsgrenze längst erreicht. Mehr Einwohnerinnen und Einwohner bedeuten auch mehr Kinder – und damit einen noch größeren Bedarf an Schul- und Betreuungsplätzen. Doch der Ausbau dieser Infrastruktur ist teuer, dauert lange und braucht Personal, das vielerorts ohnehin schwer zu gewinnen ist. Wachstum auf der einen Seite führt also direkt zu Überlastung auf der anderen.

Sporthallen: Ein Dauerbrenner in der Stadtpolitik

Auch im Bereich Sport zeigt sich das Problem besonders deutlich. Seit Jahren wird über zusätzliche Hallenkapazitäten diskutiert, weil die bestehenden Flächen für Schulen und Vereine nicht ausreichen. Jüngst hat der Bauausschuss des Kreises einstimmig den Bau einer neuen Dreifeldhalle auf dem Gelände des FC Italia am Berliner Ring befürwortet. Dennoch bleibt klar: Selbst mit diesem Projekt sind die Defizite nicht auf einen Schlag behoben. Wer Bensheim weiter wachsen lassen will, muss im Blick behalten, dass schon heute jeder zusätzliche Einwohner zusätzlichen Druck auf die ohnehin knappen Sportflächen bringt.

Finanzen und Personal: Ein Haushalt am Anschlag

Hinzu kommt die finanzielle Lage. Der städtische Haushalt ist angespannt, größere Investitionen stoßen regelmäßig an Grenzen. Gleichzeitig fehlt es an Verwaltungspersonal, um all die Projekte von Verkehrswende bis Klimaschutz überhaupt umzusetzen. Jede zusätzliche Aufgabe – sei es ein neues Baugebiet, eine neue Schule oder eine neue Halle – bedeutet auch zusätzliche Kosten und organisatorischen Aufwand. Wachsen bedeutet also nicht nur mehr Einnahmen, sondern zunächst einmal vor allem mehr Ausgaben.

Natur und Klima: Flächen sind endlich

Und schließlich steht über allem die Frage, wie viel Natur und Landschaft Bensheim für weiteres Wachstum opfern will. Schon heute kennt man in öffentlichen Planungsdialogen die Beschwerden über Hitze im Sommer in schlecht belüfteten Straßenzügen, wo die Bebauung eng ist und Grünflächen rar. Jeder neue Quadratmeter Baufläche bringt das Risiko, diese kritischen Freiräume weiter zu schwächen. 

Bensheim verweist in seinem Mobilitätskonzept „Mobiles Bensheim 2040“ darauf, wie wichtig klimaangepasste Wegeführung und attraktive Freiräume für das Stadtklima sind. Doch dieses Konzept kann nur greifen, wenn parallel die Versiegelung begrenzt, Grünflächen erhalten und neue Quartiere mit grünen Korridoren geplant werden. Wenn man Wachstum ausschließlich an der Ausweisung neuer Baugebiete festmacht, ohne die Qualität des Stadtraums zu sichern, droht ein Verlust an Lebensqualität.

Klimaschutz und wachsendes Flächenverzeichnis der Stadt dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eine nachhaltige Stadtentwicklung verlangt, dass Bensheim Vorrang auf die Nachnutzung bestehender Flächen, Nachverdichtung und klimagerechte Architektur legt – inklusive Dachbegrünung, Regenrückhalt, schattenspendender Vegetation und konsequenter Begrünung öffentlicher Räume. Nur so kann eine Stadt wachsen, ohne sich selbst auszutrocknen.

Klimaplan vs. Entlastungskommune: Strategien im Widerspruch?

Mit dem „Masterplan Klimaschutz II“ hat sich Bensheim ehrgeizige Ziele gesetzt: Klimaneutralität bis 2040, für die Verwaltung sogar schon bis 2035. Mehr als 80 Maßnahmen sind darin vorgesehen – von der Verkehrswende über Gebäudesanierung bis hin zum Ausbau erneuerbarer Energien. Schon in meinem Artikel zum Masterplan habe ich herausgestellt, wie groß die Hürden sind: Es fehlt an Geld, Personal und teilweise auch an Akzeptanz. Der Verkehr macht rund die Hälfte aller Emissionen aus, Gebäude sind der zweitgrößte Brocken, und ohne Photovoltaik auf Dächern sowie konsequente Sanierungen ist das Ziel kaum erreichbar.

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Vor diesem Hintergrund wirkt die Einstufung Bensheims als Entlastungskommune wie ein zusätzliches Gewicht auf einer ohnehin überlasteten Waage. Mehr Einwohnerinnen und Einwohner bedeuten mehr Verkehr, mehr Energieverbrauch – und damit auch mehr Emissionen. Gleichzeitig schrumpfen die freien Flächen, die eigentlich als Frischluft- und Grünzüge für das Stadtklima unverzichtbar sind.

Beides – Klimaschutz und Wachstum – unter einen Hut zu bekommen, ist möglich, aber nur mit klaren Leitplanken. Das heißt: Innenentwicklung vor Außenentwicklung, also Verdichtung und Nachnutzung statt weiterer Zersiedelung. Neubauten müssten strengen Standards folgen – verpflichtende Photovoltaik, Gründächer, nachhaltige Wärmeversorgung und weniger Stellplätze, dafür mehr Nahmobilität. Auch beim Verkehr müsste die Stadt den Mut haben, nicht nur neue Radwege zu planen, sondern das Auto tatsächlich zurückzudrängen. Der Masterplan zeigt, wie anspruchsvoll Klimaschutz für Bensheim ohnehin schon ist. Wenn jetzt noch zusätzlicher Entwicklungsdruck durch die Rolle als Entlastungskommune hinzukommt, wird der Spagat zwischen Wachstum und Klimazielen zur eigentlichen Bewährungsprobe. Wer ernsthaft beides will, muss bereit sein, harte Entscheidungen zu treffen – sonst bleibt der Klimaplan ein Papiertiger.

Innen vor Außen: Erst nutzen, was da ist

Bevor überhaupt über neue Bauflächen nachgedacht wird, sollte Bensheim zunächst die vorhandenen Potenziale ausschöpfen. In der Stadt gibt es nach wie vor Baulücken, ungenutzte Grundstücke und sogar bereits erschlossene Flächen, die bis heute brachliegen. Hinzu kommen Möglichkeiten der Nachverdichtung: Aufstockungen, Umnutzungen oder die konsequente Sanierung von Bestandsgebäuden. All das fällt unter den Planungsgrundsatz „Innen vor Außenentwicklung“ – ein Ansatz, der nicht nur Natur und Klima schont, sondern auch bestehende Infrastruktur effizienter nutzt.

Schon heute kommt die Infrastruktur in Bensheim kaum hinterher. Deshalb wäre es nur konsequent, zunächst auf die Stopptaste zu drücken: Erst die Versorgung mit einer besseren Verkehrsanbindung sichern – und dann über neues Wachstum nachdenken. Das oft gebrachte Argument, der Regionalplan schreibe keine konkreten Baugebiete vor, greift deshalb zu kurz. Erfahrungsgemäß werden im Zeitverlauf viele der vorgesehenen Flächen aktiviert; der Entwurf schafft dafür den planungsrechtlichen Rahmen – auch ohne unmittelbaren Bauzwang. Mit der Einstufung als Entlastungskommune ist Bensheim in einem dauerhaften Entwicklungsdruck, der überregional gesteuert wird. Genau deshalb ist es entscheidend, jetzt klar Position zu beziehen und die eigenen Grenzen deutlich zu machen, bevor langfristig Fakten geschaffen werden.

Auch die Kreisverwaltung betont im Zusammenhang mit dem neuen Regionalplan, dass der Bergstraße insgesamt deutlich weniger Entwicklungsflächen zugestanden werden als noch im Vorgängerplan von 2010. Damals waren rund 348 Hektar für Gewerbe und 363 Hektar für Wohnen vorgesehen – im aktuellen Entwurf sind es nur noch 110 Hektar Gewerbe und 207 Hektar Wohnen. Für die Kommunen im Kreis bedeutet das eine spürbare Reduzierung der Möglichkeiten.

Gleichzeitig zeigt sich jedoch ein Widerspruch: Ein erheblicher Teil der im alten Regionalplan ausgewiesenen Flächen wurde gar nicht genutzt. Rund die Hälfte der Wohnbauflächen und rund 40 Prozent der Gewerbeflächen blieben unbebaut. Das wirft die Frage auf, warum nun im neuen Entwurf zusätzliche Flächen als unbedingt notwendig dargestellt werden, obwohl bestehende Potenziale längst nicht ausgeschöpft wurden.

Innen vor Außen – zuerst nutzen, was da ist

Bevor neue Baugebiete am Stadtrand entstehen, sollen Baulücken, Leerstände und Nachverdichtung im Bestand genutzt werden. Das schont Boden, spart Wege und nutzt vorhandene Infrastruktur besser.

Warum sinnvoll?

Weniger Flächenverbrauch, kürzere Wege, geringere Erschließungskosten, bessere Auslastung von Kitas, Schulen & ÖPNV.

Rechtlicher Rückenwind

Der Grundsatz ist im § 1a Abs. 2 BauGB verankert: sparsam mit Boden umgehen, Innenentwicklung und Flächenrecycling vor Außenentwicklung.

Konsequenz für Bensheim

Erst Bestandspotenziale heben (Baulücken, Aufstocken, Umnutzen), Infrastruktur nachziehen – dann über neue Flächen sprechen.

Natur, Klima und Lebensqualität: Warum Flächen mehr sind als Baugrund

Wenn wir über neue Bauflächen sprechen, dann geht es nicht nur um Quadratmeter für Wohnen oder Gewerbe. Es geht auch um Natur, Klima und das, was unsere Stadt lebenswert macht. Jeder Hektar, der bebaut wird, ist ein Hektar weniger, der Regen aufnehmen kann, der Luftaustausch ermöglicht oder Tieren und Pflanzen Lebensraum bietet. Diese Zusammenhänge werden in der politischen Debatte oft zu schnell beiseitegeschoben – und doch sind sie entscheidend für die Zukunft Bensheims.

Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Frischluftschneisen. Sie sind wie die Klimaanlage einer Stadt: kalte Luft aus den Hängen oder den unbebauten Flächen strömt in die bebauten Bereiche und sorgt für Abkühlung, gerade in heißen Sommernächten. Wenn diese Schneisen durch Bebauung unterbrochen werden, fehlt dieser Effekt. Schon heute gibt es in Bensheim Stadtteile, die sich stark aufheizen. Wer sommerliche Abende in dicht bebauten Lagen der Region erlebt hat, weiß, wie drückend Hitze sein kann, wenn Luftaustausch fehlt und versiegelte Flächen Wärme speichern. Genau diese Fehler dürfen in Bensheim nicht wiederholt werden.

Auch Grünflächen in und um die Stadt spielen eine Schlüsselrolle. Sie sind nicht nur schön anzusehen, sondern wirken wie Schwämme: Sie speichern Wasser, mindern Überschwemmungsrisiken und bieten Tieren Rückzugsräume. Versiegelte Flächen hingegen leiten Regen direkt in die Kanalisation ab, verstärken Hochwasserspitzen und verschärfen gleichzeitig das Problem von Trockenheit. Jedes zusätzliche Baugebiet ohne entsprechende Ausgleichs- oder Klimaanpassungsmaßnahmen bedeutet also mehr Risiko.

Hinzu kommt die Art und Weise, wie heute oft gebaut wird: große Einzelhäuser, viel Asphalt, kaum Grün im Quartier. Solche Konzepte passen weder in eine klimaangepasste Stadtentwicklung noch in eine nachhaltige Planung. Wenn Bensheim tatsächlich wachsen soll, dann nur mit klaren Standards: energieeffiziente Gebäude, verpflichtende Photovoltaik, Gründächer, Schwammstadt-Prinzipien mit Regenrückhalt und Begrünung, autofreie oder zumindest autoarme Quartiere. Alles andere wäre ein Rückfall in alte Fehler, die wir uns im Angesicht der Klimakrise nicht mehr leisten können. Das zeigt: Wachstum ist nicht nur eine Frage von Infrastruktur und Finanzen, sondern vor allem eine Frage von Natur- und Klimaschutz. Wer Flächen ausweist, ohne diese Perspektive mitzudenken, verspielt die Chance, die Stadt für kommende Generationen lebenswert zu erhalten.

Klima & Stadtgrün – warum Frischluftschneisen zählen

Grünflächen, Kaltluftentstehungsgebiete und Frischluftschneisen sind die „Klimaanlage“ der Stadt. Sie kühlen, speichern Regenwasser und schützen vor Überflutung & Hitzeinseln – gerade in langen, heißen Sommern.

Was passiert bei Versiegelung?

Mehr Hitze, weniger Versickerung, höhere Hochwasserspitzen. Luftaustausch wird behindert – Quartiere heizen stärker auf.

Bauen – aber richtig

Wenn gebaut wird, dann mit Gründächern, PV-Pflicht, Schwammstadt-Prinzip (Regenrückhalt), viel Stadtgrün und autoarmen Quartieren.

Was heißt das für die Planung?

Frischluftkorridore sichern, Innenentwicklung priorisieren, Ausgleichs- und Klimaanpassungsmaßnahmen vor Ausweisung neuer Randflächen festlegen.

Politische und rechtliche Fakten: Warum die Entlastungskommune nicht passt

Die Bundesregierung hat in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie festgeschrieben, den täglichen Flächenverbrauch bis 2030 auf unter 30 Hektar pro Tag zu senken – derzeit liegt er bei rund 55 Hektar. Bis 2050 soll sogar eine Netto-Null erreicht werden, also keine zusätzliche Inanspruchnahme neuer Flächen ohne gleichzeitige Entsiegelung. Wer neue Baugebiete ausweist, bewegt sich damit zwangsläufig in Widerspruch zu einem zentralen Bundesziel.

Auch Hessen hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden und dabei den Bodenschutz verbindlicher in die Planung einzubeziehen. In Genehmigungs- und Bauleitplanverfahren müssen die Funktionen des Bodens – Versickerung, Kühlung, landwirtschaftliche Nutzung – berücksichtigt werden. Zusätzliche Versiegelung schwächt diese Funktionen und widerspricht dem Landesziel, die Klimafolgen für Städte zu mildern.

Rechtlich ist außerdem klar: Der Grundsatz „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ ist nicht nur eine planerische Empfehlung, sondern im Baugesetzbuch (§ 1a Abs. 2 BauGB) verankert. Kommunen sind verpflichtet, vorrangig Baulücken und Nachverdichtungen zu nutzen, bevor neue Flächen am Stadtrand erschlossen werden. Wird diese Pflicht missachtet, geraten Bebauungspläne rechtlich angreifbar – gerade dann, wenn gleichzeitig klimatische und ökologische Belange nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Hinzu kommt die europäische Ebene: Mit der EU-Bodenstrategie von 2021 hat sich Deutschland verpflichtet, bis 2050 den Nettoverlust an Flächen auf Null zu bringen. Kommunale Planungen, die auf weiteres Wachstum durch großflächige Versiegelung setzen, laufen diesem Ziel entgegen. Bensheim würde damit nicht nur gegen Bundes- und Landesvorgaben arbeiten, sondern auch europäische Leitlinien unterlaufen. Diese Fakten zeigen: Die Einstufung als Entlastungskommune steht nicht im luftleeren Raum, sondern kollidiert direkt mit übergeordneten politischen Zielen und rechtlichen Vorgaben. Wer jetzt zusätzliche Flächen festschreibt, ignoriert diese Verpflichtungen – und setzt die Stadt langfristig dem Risiko aus, bei Klimaschutz, Infrastruktur und Rechtssicherheit auf der falschen Seite zu stehen.

Normale Kommune vs. Entlastungskommune

Der Regionalplan unterscheidet zwischen „normalen“ Kommunen mit Entwicklungsspielraum für den Eigenbedarf und sogenannten „Entlastungskommunen“, die überregional zusätzlichen Druck abfedern sollen. Bensheim gehört im aktuellen Entwurf zu dieser zweiten Kategorie.

Normale Kommune Entlastungskommune
Darf Flächen nur nach eigenem Bedarf entwickeln (Wohnen/Gewerbe). Muss zusätzlich überregionalen Bedarf abfangen (z. B. aus Frankfurt/Darmstadt).

Kontingente liegen typischerweise deutlich unterhalb der Entlastungswerte und orientieren sich am Eigenbedarf.

Erhält größere Kontingente – für Bensheim: 22 ha Wohnen, 15 ha Gewerbe.
Weniger politischer Druck von außen, lokale Steuerung dominiert. Dauerhafter Entwicklungsdruck durch Regionalplan & Investoreninteressen.
Mehr Flexibilität, eigene Grenzen zu ziehen. Wachstum orientiert sich auch an überregionalen Erwartungen.

Heißt: Als normale Kommune könnte Bensheim seinen Flächenbedarf stärker an den eigenen Möglichkeiten ausrichten. Als Entlastungskommune wächst der Druck, zusätzliche Lasten für die Region zu übernehmen – mit allen Folgen für Infrastruktur, Klima und Lebensqualität.

Wachstumsdruck trifft Realität

Bensheim ist im Regionalplan als Entlastungskommune vermerkt – daran gibt es keinen Zweifel. Doch genau das ist das Problem. Denn während die Bundesregierung den Flächenverbrauch drastisch reduzieren will und Hessen sich auf Klimaneutralität bis 2045 verpflichtet hat, soll Bensheim zusätzliche Flächen für Wohnen und Gewerbe bereitstellen. Das passt nicht zusammen. Es bedeutet nicht nur mehr Beton, sondern auch mehr Verkehr, mehr Energieverbrauch, mehr Druck auf Schulen, Kitas und Sporthallen – und am Ende weniger Lebensqualität für die Menschen, die hier leben.

Wer die Stadt kennt, weiß: Schon jetzt stoßen wir an unsere Grenzen. Straßen sind überlastet, Betreuungsplätze fehlen, Sporthallen sind Mangelware, und der Haushalt ist angespannt. Dazu kommt die Klimakrise, die uns vor Augen führt, wie wichtig Grünflächen, Frischluftschneisen und eine klimagerechte Stadtentwicklung sind. Die Einstufung als Entlastungskommune ignoriert all das – sie ist ein Wachstumsversprechen, das auf Kosten von Natur, Klima und Lebensqualität geht.

Bensheim braucht selbstverständlich Spielräume, um sich organisch weiterzuentwickeln und auf den eigenen Bedarf reagieren zu können – sei es für Familien, Unternehmen oder soziale Infrastruktur. Entscheidend ist, dass diese Entwicklung selbstbestimmt erfolgt: in einem Tempo, das unsere Stadt verkraftet, und angepasst an die realen Bedürfnisse vor Ort. Kritisch sehe ich die Einstufung als Entlastungskommune, weil sie Bensheim von außen in eine Rolle drängt, die langfristig unsere Gestaltungshoheit schwächt und zusätzlichen Druck erzeugt. Wachstum ja – aber maßvoll, lokal gesteuert und im Einklang mit Infrastruktur, Natur und Klima.

Fazit & Argumente – Warum Bensheim keine Entlastungskommune sein sollte

Die Analyse zeigt: Der Status „Entlastungskommune“ erhöht den Entwicklungsdruck – mit hohen Folgekosten und klaren Zielkonflikten. Aus sachlichen Gründen spricht mehr gegen als für zusätzliche Außenentwicklung.

Harte Fakten
  • Kein Bauzwang im Regionalplan – aber dauerhafter Rahmen für Wachstum.
  • Bund & Land setzen Flächensparen und Klimaziele – zusätzliche Versiegelung kollidiert damit.
  • Innen vor Außen ist rechtlich verankert (§ 1a Abs. 2 BauGB): erst Baulücken/Nachverdichtung, dann Randflächen.

Risiken für Bensheim
  • Infrastruktur am Limit: Verkehr, Kitas/Schulen, Sporthallen & Haushalt bereits angespannt.
  • Klima & Stadtgrün: Verlust von Frischluftkorridoren, mehr Hitze & weniger Versickerung.
  • Langfristige Kosten: Erschließung und Betrieb neuer Gebiete übersteigen oft Mehreinnahmen.

Konsequente Empfehlung
  • Stopptaste: Infrastruktur zuerst nachziehen – dann entscheiden.
  • Innenentwicklung priorisieren: Baulücken heben, Aufstocken, Umnutzen, dichte & fußläufige Quartiere.
  • Klare Leitplanken: PV- & Gründach-Pflichten, Schwammstadt, autoarme Quartiere statt Randflächen.

Schlussfolgerung: Bensheim gewinnt Lebensqualität, Kostensicherheit und Klimastabilität, wenn es nicht als Entlastungskommune wächst, sondern die bestehenden Potenziale im Bestand konsequent nutzt.

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Zuletzt aktualisiert am 23. September 2025

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